Tuktuks und die Fahrt zum Kamelmarkt von Darau, Ägypten

Veröffentlicht von Dr. Alexander Wiehart am 23. Mai 2017.
Filmschnitt: Michaela Dehnert.

Die Fahrt zum Kamelmarkt von Darau in einem hinten offenen Kleinbus begann an der Nilanlegestelle. Sogleich zog mich der Rhythmus des Verkehrs in seinen Bann: alle scheinen Freude am Überholen und Herumkreuzen zu haben. Ein quicklebendiges Gewirr ohne Hektik, ohne Erzwingen und ohne Bestehen auf Vorfahrt. Bei den geringen Geschwindigkeiten von geschätzt höchstens 30 km/h macht es auch nichts, wenn man ‚mal aneinander mehr oder weniger heftig anditscht – eine ganz andere Haltung als die der deutschen Väter, die jeden Morgen und jeden Abend ihr immer tadelloses Auto umkreisen und von allen Winkeln den Lack beäugen, ob sich nicht irgendwo die Andeutung einer Beule oder eines Kratzerchens fände. Das hätte ihnen die gesamte Woche verdorben.

Auf Ägyptens Straßen scheint der Verkehr einen weitgehend unregulierten Interaktionszusammenhang zu bilden, der unbeabsichtigt und ungeplant aus einer geradezu tänzerischen Bezugnahme der Teilnehmer aufeinander entsteht. So etwa dient das Hupen nicht als empörte Maßregelung, sondern macht kurz auf die eigene Präsenz vor einem Manöver aufmerksam. Nicht Akteure, die ihr Recht beanspruchen, dominieren das Geschehen. Vielmehr entfaltet es sich in einem permanenten Aushandeln der eigenen Position in gemeinsamem, zentrums- und hierarchielosem dynamischem Geflecht. Darin mag man Jürgen Habermas‘ Ideal eines herrschaftsfreien lebensweltlichen Diskurses zum Ausdruck gebracht sehen, nur dass die Interaktion selbstverständlich nicht im Medium der Sprache stattfindet, sondern als kommunikative Lenkung von Fahrzeugen. Demgegenüber bildet der stark an ausdrücklichen, staatlich verordneten und durchgesetzten Regeln gebundene Verkehr auf deutschen Straßen einen Handlungszusammenhang, der durch überpersönliche Systemimperative organisiert wird.

Neben Limousinen, Pritschenwagen, Kleinbussen und bäuerlichen Kleinsttransportern aller Art sind auf der Straße zum Kamelmarkt vor allem „Tuktuks“ unterwegs: motorisierte Dreiräder, wie sie zuerst Piaggio (Vespa) in Italien nach dem 2. Weltkrieg herstellte und danach als Autorischkas im Mittleren Osten und Südostasien weite Verbreitung fanden. Dort erhielten sie auch ihren lautmalenden Namen. In Ägypten1 setzen sie sich als preisgünstige Taxivariante seit der Jahrtausendwende mehr und mehr durch. Wissenschaftliche Schätzungen gehen davon aus, dass in Ägypten zirka 500.000 Tuktuks täglich 30 Millionen Menschen befördern (Stand 2015). Meist sitzen Jugendliche, oft sogar Kinder am Steuer. Besonders nach der Revolution von 2011 und dem folgenden Einbruch des Tourismus bietet das Tuktuk für schlecht Ausgebildete, sozial Benachteiligte und Opfer der Wirtschaftskrise oft die einzige Möglichkeit des Gelderwerbs. Sich amtlich registrieren zu lassen, ist zwar ausdrücklich gesetzlich vorgeschrieben, findet allerdings nur sehr selten statt. Der bei weitem größte Teil des mit Tukutuks betriebenen Transportgeschäfts gehört zur Schattenwirtschaft. Die Fahrer bezahlen keine Steuern, sind nicht versichert und bleiben der Polizeiwillkür ausgeliefert. Oft stehen sie vor der Wahl zwischen Konfiszierung ihres Tuktuk oder Bestechung des Polizisten. Eine Lizenzierung wäre, abgesehen von den vorgeschriebenen Gebühren, mit weiteren Bestechungen verbunden und schränkte die Beförderungserlaubnis auf ein bestimmtes Viertel ein, was den Wert des Fahrzeuges verringerte; es ließe sich mit einer solchen örtlich restringierten Zulassung kaum weiterverkaufen. Von den Behörden zunehmend missbilligt, sind Tuktuks mittlerweile auf den Verkehrsadern der Großstädte und in einigen ganzen Vierteln gänzlich verboten. Ihren Unmut bringen die Fahrer meist aus gegebenen Anlässen in vereinzelten Tumulten zum Ausdruck, ohne sich aber zu organisieren und kontinuierlich auf eine Verbesserung ihrer Lage hinzuwirken. Immerhin wurde die treffende Wutrede eines Tuktuk-Fahrers im Herbst 2016 zum Nachrichten- und Youtube-Erfolg.

Bei großer Ähnlichkeit der Betätigung (hier: des Fahrens) und der eingesetzten Mittel (hier: des Tuktuk) steigt das Bedürfnis, die eigene Besonderheit zu betonen. Da dies durch den Fahrstil nur sehr beschränkt möglich sein dürfte und der Fahrer im inneren des Gefährtes weitgehend verborgen bleibt, verlagern sich die Manifestationen der Individualität auf Farbgebung und Schmuck des Fahrzeuges: Das Tuktuk selbst wird zum Medium der Performance von Unverwechselbarkeit. Auf traditionelle ägyptische oder arabische Ausdrucksformen kann man dabei nicht zurückgreifen; die wären allen Fahrern gleichermaßen zugänglich und würden sie nicht voneinander abheben. Deshalb wählt man aus dem Formenreichtum einer unerschöpflichen internationalen Popkultur aus. Die Kombination erfolgt ohne allgemein nachvollziehbaren Zusammenhang, wodurch sich das Individuelle gegen Einordnung absichert: einmal zieren überdimensionale farbige Würfel und das Poster eines Motorradfahrers das Innere der Windschutzscheibe, ein andermal ist es das Plakat mit dem Gesicht einer Schönen vor den Pyramiden von Gizeh, davor die mit kleinen Plastikhänden beklebten Scheibenwischer und darunter Totenkopfscheinwerfer.

Das Paradoxe solcher Inszenierungen der Einzigartigkeit ist augenfällig (und mit der Paradoxie einer individualistischen Mode verwandt). Denn diese Art und Weise des Schmückens bildet sogleich ein allgemeines Merkmal: Sie ist Tuktuk-typisch und charakterisiert eine Gruppe, aber eben eine Gruppe, die sich nach außen nicht sonderlich stark als Einheit abschließt, überhaupt als Einheit konstituiert oder auch nur versteht. Einen Berufsverband der Tuktuk-Fahrer etwa gibt es nicht. Solchen losen Gruppen ist eine starke Individualisierungstendenz der Gruppenmitglieder untereinander eigen, wie Georg Simmel beobachtet:

Wir führen sozusagen eine doppelte oder, wenn man will, halbierte Existenz: einmal als Individuum innerhalb des sozialen Kreises, mit fühlbarer Abgrenzung gegen dessen übrige Mitglieder, dann aber auch als Mitglied dieses Kreises, in Abgrenzung gegen das, was ihm nicht angehört… Dem Plus an Befriedigung, das etwa der Differenzierungstrieb im Sinne der Sonderpersönlichkeit den Gruppengenossen gegenüber gewinnt, wird ein Minus derjenigen Differenzierung entsprechen, die eben dasselbe Wesen in der Vereinigtheit mit seinen Gruppengenossen, als bloßes Sozialwesen gewinnt; d. h. die gesteigerte Individualisierung innerhalb der Gruppe wird mit einer herabgesetzten Individualisierung der Gruppe selbst zusammengehen, – und ebenso umgekehrt – wenn ein bestimmtes Maß des Triebes gedeckt werden soll (Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1908, S. 533).

Äffchen und Schwänzchen – auch die Rückseite wird individualisiert…

1 Die in diesem Absatz wiedergegebenen Daten und Einschätzungen zur Lage der Tuktuk-Fahrer in Ägypten stammen aus: Nayera Abdel Rahman: Mobilizing Egypt’s Marginalized Youth. The Case of Tuktuk Drivers, Beitrag für: International Political Science Congress (IPSA), 24-28 July 2016, Posen, online zugänglich unter: http://paperroom.ipsa.org/papers/paper_48491.pdf (letzter Aufruf: 16. Mai 2017).

 

2 Gedanken zu “Tuktuks und die Fahrt zum Kamelmarkt von Darau, Ägypten

  1. Lieber Alexander, Deine website ist einfach super, professionell und ansprechend! Da steckt eine Menge Arbeit, Liebe und Herzblut drin! Und den Mitreisenden gibt sie eine schöne Erinnerung, an Hand derer sie die gemeinsamen Erlebnisse und Eindrücke nochmals vergegenwärtigen können. Vielen Dank und Chapeau ! Viele Grüße, Dirk

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