Heiko Sievers:
Mushroom of the Day #1379 (Do., 30. Juni 2016): Alexander Wiehart mit Pilz I, color pencil on paper, h 32 x w 24 cm, 2016.
Mushroom of the Day #1380 (Fr., 1. Juli 2016): Alexander Wiehart mit Pilzen II, color pencil on paper, h 32 x w 24 cm, 2016.
Mushroom of the Day #1381 (Sa., 2. Juli 2016): Alexander Wiehart mit Pilzen III, color pencil on paper, h 32 x w 24 cm, 2016.
Heiko Sievers‘ „Selbstpilznisse“ sind keine Selbstbildnisse. Denn der Künstler reproduziert darin nicht sein eigenes Aussehen, sondern porträtiert eine andere Person, der er aufgetragen hat, sich selbst mit Pilzen zu knipsen. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob zu diesem Auftrag ausdrücklich gehörte, eine möglichst befremdliche Pose einzunehmen; ich jedenfalls habe dies versucht. Die dabei entstehenden kunstlosen und unvorteilhaften Selfies dienen Sievers als Vorlagen für Zeichnungen. Vom wirren Hintergrund des Fotos sieht er ab und konzentriert sich ganz auf den Porträtierten. Bildausschnitt und Details gibt er ziemlich genau wieder, weshalb etwa auf „Alexander Wiehart mit Pilzen II“ der Kopf nicht ganz im Bild Platz findet: als ungeübter Selfieproduzent traf ich mich selbst nicht genau genug.
Dieser Herstellungsprozess überwindet das gewohnte Verhältnis zwischen Künstler und Dargestelltem: Die Zeichnungen sind, genau genommen, niemandes Selbstbildnis. Denn das Selfie wird von Sievers in das Medium meisterlicher monochromer Zeichnung transformiert und damit ästhetisch vollkommen neu gefasst. Die oder der Dargestellte büßt die Verfügungsgewalt über die eigene Selbstinszenierung ein; flotte Banalität verwandelt sich in sorgfältig, bisweilen nach mehreren Skizzen ausgeführte Kunst. Zugleich aber gibt der Künstler seine traditionell unbegrenzte grafische Freiheit bei der Wahl des Bildaufbaus, des festgehaltenen Augenblicks sowie von Mimik, Gestik usw. weitgehend aus der Hand. Heiko Sievers schafft eine Situation, die niemand vollständig kontrolliert. Porträtierender und Porträtierter bilden füreinander eine prekäre Kontingenz*, mit der sich beide Seiten arrangieren müssen. Für den Porträtierten entsteht zusätzliche Kontingenz durch die zur Verfügung gestellte ziemlich unaufwendige Digitalkamera: Sie lässt keinen kontrollierenden Blick auf den Bildschirm während des Fotografierens zu, so dass man sich von dem Ergebnis überraschen lassen muss. Eine weitere Überraschung stellt dann die von Sievers geschaffene Zeichnung dar, auf deren Entstehungsprozess der Porträtierte keinen Einfluss nehmen kann.
Die besondere Herausforderung beim Schießen von Selfies für Selbstpilznisse besteht darin, das eigene Bild mit Hilfe der zur Verfügung gestellten Champignons zu verunstalten. Das hat mir großen kindlichen Spaß bereitet, ist aber auch riskant. Denn eine solche „Selbstverpilzung“ ist ja keineswegs ein wohldefinierter Akt, für den es Manuale, anerkannte Gelungenheitskriterien, Studiengänge oder VHS-Kurse gäbe. Selbstverpilzung thematisiert den eigenen Kopf durch Einfügung eines Objekts, das normalerweise bei der fotografischen und sonstigen Selbstinszenierung keine Rolle spielt. Ebensowenig gibt es eine eingeführte Symbolik der Kombination von Pilz und Gesicht. Ich musste also ohne Anleitung, ohne Vorbild, ohne Bedeutungskonventionen: ohne Netz agieren. Während ich erwartungsvoll hilflos mit der Kamera hantierte, fiel mir Ernst Jandls Gedicht „zweierlei handzeichen“ ein (aus: Laut und Luise, Stuttgart 1983, S. 135):
ich bekreuzige mich
vor jeder kirche
ich bezwetschkige mich
vor jedem obstgartenwie ich ersteres tue
weiß jeder katholik
wie ich letzteres tue
ich allein
Mit der Verpilzung befand ich mich in einer ähnlichen Situation wie das lyrische Ich Jandls bei seiner „Bezwetschkigung“. Nur würde alle Welt via Internet erfahren, wie ich mich verpilze, ohne dass ich selbst diese Handlung verstünde.
Unbeabsichtigt ergab sich aber doch Sinn, wenn auch ein sehr zweifelhafter, einer, der beständig bedroht ist, in den Unsinn zu kippen und das Porträt mitzureißen in Gefilde des komisch Krisenhaften. Denn die Assoziationen, die wir sofort herstellen, um uns zu beruhigen, gehen im Selbstpilznis chronisch nicht auf. Betrachten wir die einzelnen Zeichnungen:
Bild I mag an einen Clown erinnern. Das war von mir zwar nicht beabsichtigt, passte aber zu der hier entwickelten Interpretation. Denn auch Clowns sprengen mit ihrem Nonsens vermeintlich wohlfundierte Sinngebäude. Aber eigentlich zeigt dieses Porträt dann doch nur jemanden, der sich etwas mit aufgerissenen Augen vor die Nase hält. Zudem lässt die Wahl eines betont unbunten Stiftes eine Zirkusatmosphäre gar nicht erst aufkommen.
Bild II mag eine Übersättigung vom Leben zum Ausdruck bringen, eine selbstgewählte Erblindung, weil man nichts Besonderes mehr zu sehen erwarte in dieser trüben Welt: „Bis man mir Champignons auf die Augen legt“, um auch noch einen Buchtitel (den des letzten Teils der Autobiografie von Manès Sperber) zu verpilzen. Andererseits erscheint solcher heroischer Weltschmerzgestus durch das mühsame Halten der Brille entlarvt als sehr gewollte, sich nicht selbst ernst nehmende Performanz.
In „Alexander Wiehart mit Pilzen III“ könnte man durch den (unabsichtlich) verdeckten Unterkiefer gar die Anspielung auf einen Totenkopf erblicken – ein Eindruck, dem allerdings die lebendigen Augen sofort widersprechen. Spielt die Handhaltung vielleicht an den gestus melancholicus an, der traditionellen Bildformel des zwischen Niedergeschlagenheit, Begeisterung und Raserei schwankenden Charakters eines Genies? Doch dem widersprechen die Pilze, die so eingezeichnet sind, als wären sie mit dem Körper verbunden. Also wachsen schon die Pilze aus Hand und Kopf? Also doch Tod? Dazu passen allerdings nicht nur die offenen Augen nicht, sondern auch weder die aufrechte Haltung, noch das unfeierliche Hemd. Und könnten sich biedere Supermarktchampignons überhaupt von Leichen ernähren? Sievers Pilze erweisen sich jedenfalls auch hier als effektive Sinnzersetzer – wie so oft im Projekt Mushroom of the Day**.
Facit: Das Selbstpilznis trägt im Gegensatz zu konventionellen Porträts nichts zur beruhigenden, versichernden Einordnung unseres Selbst bei, sondern verrückt uns ins Unausgelotete, Fragliche, Sinnlose und Komische. Dort sind wir, wenn wir aufhören, uns etwas vorzumachen, eigentlich daheim.
* Zu dem Begriff der Kontingenz siehe meine Filmbesprechung von Gravity, USA, Vereinigtes Königreich 2013, R: Alfonso Cuarón.
** Zwei weitere Pilzbilder von Heiko Sievers finden sich auf dieser Webseite interpretiert:
Leerstelle
Albert Camus
Assoziationen zu Bild 3:
Alexander Wiehart freut sich über das Ergebnis der würfelartig gehaltenen Pilze.
Vielleicht lauscht er auch gerade nur ob sie noch rascheln?
Eigentlich hatte ich mir ein Pilzorakel erhofft, doch die Champignons sprachen zu leise…
Gefällt mir nicht, alles zu weit hergeholt.
Wobei die Zeichnungen nicht schlecht sind, aber besser ohne Kommentare.
Gruß, Daniels