The 100, Staffel 1

Diese Besprechung von Dr. Alexander Wiehart wurde am 18. September 2015 online gestellt.

Bitte Folgendes beachten: Ziel meiner Besprechungen ist es nicht, Empfehlungen abzugeben. In erster Linie setze ich mich essayistisch mit Filmen und Serien auseinander und behandle an ihnen allgemeine philosophische, sozial- und geisteswissenschaftliche Fragen. Dabei muss ich das „Ende“, Pointen, Wendungen und Clous oft in die Überlegungen einbeziehen. Wer sich daher Spannung und Suspense nicht verderben lassen will, lese meine Kritiken immer erst nach Sehen des Films beziehungsweise der Serie! Die Spoilerwarnung ist hiermit ausgesprochen.

 

Gaston

The 100: USA, 29+ Folgen in 2+ Staffeln seit 2014, Showrunner: Jason Rothenberg, nach den gleichnamigen Büchern von Kass Morgan, D Staffel 1:
Sky People von der Arche (Jugendliche und junge Erwachsene): Eliza Taylor, Thomas McDonell, Bob Morley, Marie Avgeropoulos, Eli Goree, Lindsey Morgan, Devon Bostick, Christopher Larkin, Richard Harmon, Izabela Vidovic,
Sky People von der Arche (Elterngeneration): Paige Turco, Isaiah Washington, Henry Ian Cusick, Chris Browning, Kate Vernon.
Grounders: Ricky Whittle, Dichen Lachman.

Zitiert wurde (so gut ich konnte) nach dem Gehör aus dem englischen Original von The 100. Die deutsche Übersetzung der Dialogzeilen stammt von mir.

Die Besprechung der zweiten Staffel von The 100 findet sich unter:
https://wiehart.wordpress.com/film-und-fernsehkritik/fernsehserien/the-100-staffel-2/

Rasendes Tempo, Hochspannung, intensives Spiel, Zuspitzung von Gegensätzen und komprimierte Darstellung einer komplexen, immer in mehrere Stränge verzweigten Handlung – damit wartet die Serie auf von der ersten Minute an: Romantische, kreidegezeichnete Träume von der unbekannten Erdoberfläche dienen sogleich als Kontrast zu der harschen Realität auf der Raumstation „Arche“ (engl. Ark). Das Leben dort hängt ganz und gar am dünnen Faden veralteter, störungsanfälliger Technik. Die Gefahr eines für alle tödlichen Defekts ist so groß, die Ressourcen sind so knapp, dass man bereits wegen kleinster Vergehen im Schnellverfahren für entbehrlich (expendable) erklärt und durch „Floating“, wie es euphemistisch heißt, hingerichtet wird: man entzieht den Verurteilten in der Luftschleuse die Atemluft und lässt sie ungeschützt ins Weltall hinaustreiben. Der zeichnende und träumende weibliche Teenager befindet sich im Gefängnis: Clarke Griffin (Eliza Taylor) wird von Wachen abgeholt, versucht in Todesangst davonzulaufen, als man ihr die Uhr, die dem Vater gehörte, abnehmen will. Ihr drohe aber, wie die herbeieilende, offenbar in der Arche-Hierarchie hoch stehende Mutter (Paige Turco) versichert, nicht die Exekution. Vielmehr gehöre Clarke zu den (titelgebenden) 100 minderjährigen Gefangenen, die man zur Erde schicke: Versuchskaninchen, um herauszufinden, ob die Erdoberfläche nach dem 97 Jahre zurückliegenden Atomkrieg für Menschen wieder zu bewohnen ist. Dieses Experiment an lebenden Jugendlichen soll die Rückkehr der gesamten Crew auf den entvölkerten Planeten einläuten und damit der, wie man meint, einzigen Menschen, die es nach dem nuklearen Holocaust noch gibt. In weniger als drei Minuten ist diese Grundkonstellation der 1. Staffel rasant entwickelt und die Kapsel mit „The 100“ gestartet. Nach weiteren drei Minuten sind zwei der 100 bereits tot und der Kontakt zur Arche ist abgebrochen. Trotz Beschädigung setzt die Raumkapsel aber sicher auf. Man hat erfahren, dass Clarks Vater (Chris Browning) gefloatet wurde, verraten von dem naturwissenschaftlich versierten Wells (Eli Goree), einem ehemaligen Freund Clarks und Sohn des Kanzlers Thelonious Jaha (Isaiah Washington). Neben Wells und Clarke, die sich sofort als verantwortungs- und führungsbewusst erweisen, lernen wir in den zweiten drei Minuten auch Finn (Thomas McDonell) kennen. Leichtsinnig schwebt er in der Schwerelosigkeit herum und verschuldet durch dieses Vorbild den Tod zweier anderer. Schließlich wird noch der Kanzler in seiner Bildschirmansprache an die Jugendlichen vorgestellt. Zu seiner gönnerhaft-zynischen Performance passt, wie man auf der Arche mit den aufgebrachten Eltern der 100 umgeht: man informiert sie nicht über den Verbleib der Kinder, sondern fertigt sie in allzu bekanntem Politikerjargon ab: ‚Das können wir zum jetzigen Zeitpunkt weder bestätigen noch dementieren.‘ Die politische Führung lässt ihr eigenes Volk im Unklaren über existentielle Entscheidungen. Denkt man die drakonischen Strafen hinzu, ergibt sich das Bild eines autoritären, grausamen, paranoiden Systems, das seine Legitimation offenbar allen aus dem Versprechen bezieht, Sicherheit zu gewährleisten angesichts der permanenten Existenzbedrohung im Orbit. Gut sechs Minuten und uns sind Situation und vier Hauptfiguren schon ziemlich gut bekannt; sechs Minuten, um uns in diese zerstörte Welt hineinzureißen.

Wie Game of Thrones entfaltet The 100 eine durchgehende Geschichte, die in mehreren gleichzeitigen Handlungssträngen dramatisiert wird und Komplexität gewinnt. Der Reiz von The 100 liegt weniger in Ausstattung und Kulisse: das Science-Fiction-Design ist uninspiriert, das Outfit der Grounder weitgehend bei den Mad Max-Filmen abgekupfert, die Reaper hat man viel peppiger schon einmal in der Serie Firefly und ihrer Kinofortsetzung Serenity (USA 2005, R: Joss Whedon) gesehen, wo sie als irrsinnige „Reaver“ in galaktischen Dimensionen verstümmeln und zerstückeln. Weder findet eine ironische Brechung der Genretradition statt wie in John Carpenters Dark Star von 1974, in Finchers Alien 3 von 1992 oder Jeunets Alien – Die Wiedergeburt von 1997, woher Anregungen für das Gammeldesign der Arche stammen dürften, noch wird die wuchtige Überzeugungskraft des Realismus von The Walking Dead erreicht. Was an The 100 fesselt ist Suspense, die rasche Folge sich oft brutal zuspitzender Handlung und retardierender Momente. So wartet am Ende von Staffel 1 die Arche-Besatzung auf die Initialzündung, um zur Erde zu fliegen. Doch diese findet nicht statt. Ratsmitglied und Sicherheitschef Marcus Kane (Henry Ian Cusick) ist bereit sich zu opfern, wirft sich schon in Abschiedspose, doch dann ist es Kanzler Jaha, der sich geopfert hat und den Start manuell einleitet. Er selbst muss daraufhin im Orbit zurückbleiben; Spannung erhöhendes Gerangel um seine Nachfolge steht zu erwarten. Die Spannungsspitzen sind ohne lange Umwege erreicht und finden sich schnörkellos immer noch um ein Stückchen mehr geschärft, als man für möglich gehalten hätte: Eine nervliche tour de force, die sich in der zweiten Staffel sogar steigert. Das wäre nicht zu erreichen ohne den Verzicht, Gefühliges auszuwalzen: So fallen Wiederbegegnungen, Versöhnungen, Geständnisse, Umarmungen etc. zwar überzeugend, aber glücklicherweise immer sehr kurz aus; die Handlung flacht danach nicht ins Wohlige ab, sondern schnellt gleich wieder hoch durch neue Konflikte oder aufreibende Wendungen. The 100 nimmt sich also nicht die Zeit für ein tränenflüssigkeitsverbrauchsintensives Schwelgen, woran etwa Interstellar (USA, UK 2014, R: Christopher Nolan) so grandios scheiterte. Knapp und komprimiert fallen auch die Dialoge aus, die sich oft zu einem Schlagabtausch mit gepfefferter Sentenzen steigern. In der Besprechung von Staffel 2 werde ich hierfür einige Beispiele anführen. Ein weiteres Mittel der Spannungssteigerung ist das geschickte Spiel mit der Zuschauererwartung. Immer wieder führt uns die Serie gezielt in die Irre. So wird gleich in den ersten beiden Episoden mit dem Fund von Affenspur und ­‑schädel nahe gelegt, dass die 100 auf dem Planeten der Affen gelandet wären. Woher die Affen auf dem Gebiet der heutigen USA im Großraum Washington, D. C. stammen, wird erst in der zweiten Staffel enthüllt. Schließlich dürfen wir uns ebenso wenig wie in Game of Thrones darauf verlassen, dass die sorgfältig eingeführten Hauptpersonen überleben oder ihre moralische Integrität wahren.

The 100 wird nicht nur durch die Rasanz überraschender, zugleich überzeugender Handlungswendungen so spannend, sondern auch durch die Wandlungen der zentralen Figuren beziehungsweise des Eindrucks, den sie machen. Eingeführt werden sie oft als Stereotype: Dr. Abby Griffin und ihre Tochter Clarke als die humanen Verantwortungsbewussten vom Dienst, Kane und Bellamy Blake (Bob Morley) als die paranoiden, unbarmherzigen und machthungrigen Sicherheitler, Finn als der gutmütig Leichtlebige etc. Doch bald gewinnen diese Figuren aus jeweils nachvollziehbaren Gründen eine Entwicklungsdynamik, die sie jenseits aller Klischees positioniert. Moralische Eindeutigkeit geht dabei regelmäßig verloren, die Figuren werden mit Ambivalenz angereichert. So war es doch nicht Wells, der Clarkes Vater verraten hatte. Clarkes Mutter Abby hatte ihren eigenen, geliebten Gatten angezeigt, weil sie ihn bei aller Liebe für eine Gefahr der öffentlichen Ordnung hielt. Wells nahm diese Tat auf sich, um Clarkes Vertrauen in die Mutter nicht zu erschüttern. Mit dieser Enthüllung fällt schlagartig ein Schatten auf die bisher leuchtende Abby. Tochter und Mutter entfremden sich einander, was für ein zusätzliches Spannungsmoment sorgt. Ermöglicht wird der charakterliche Komplexitätsgewinn von der Dramaturgie: durch die andauernde Verzweigung in mehrere parallele Handlungsstränge stehen immer mehrere Figuren zugleich im Zentrum verschiedener Abenteuer, an denen sie wachsen, verkümmern, Deformation erleiden und worin sie sich neu im Figurengefüge verorten.

Philosophisch interessant und verdienstvoll ist besonders eine frühe Enttäuschung der Publikumserwartung: Denn die Serie scheint nach den fetzigen Eröffnungsminuten in ein Highschool-Dramulett abzuflachen: Die glücklich Gelandeten hüpfen, elterlicher Autorität entwischt, auf die Erde mit der nur allzu bekannten „Let’s have fun!“-Attitude. Eine nie enden wollende Party, erste Liebesabenteuer, das Bestehen gegen die Bullies etc. kündigen sich an gemäß Bellamys kraftvollem Statement gegenüber Kanzlersohn Wells, der auf Ordnung und Verantwortung pocht:

„Hier gibt es keine Gesetze. Hier tun wir, was immer zum Teufel wir wollen, wann immer zum Teufel wir wollen“ („Here there are no laws. Here we do whatever the hell we want whenever the hell we want“, s1ep1, 27.17-24).

Deshalb fordert die Gruppe um Bellamy, dass sich alle das Armband abnehmen lassen und damit die Übermittlung biometrischer Daten an die Arche abbrechen. Erlöschen die Lebenszeichen aller 100, liegt der Schluss nahe, die Erdoberfläche sei noch unbewohnbar. Die Erwachsenen kämen dann nicht nach, die Jugendlichen wären für immer befreit nicht nur von dem Zwangsregime, das auf der Raumstation herrscht, sondern von allen Reglements und Disziplinierungen. Doch so einfach ist es selbstverständlich nicht und dieser Plan geht nicht auf.

Warum? Warum leben die 100 nicht einfach vor sich hin, sondern bilden freiwillig – wie Menschen das auch sonst tun – politische Ordnungen? Warum verpflichten sie sich auf Regeln und Entscheidungsverfahren, warum setzten sie sich den Strafen aus, die bei Zuwiderhandeln drohen? Die erste Staffel von The 100 übersetzt die Antwort, die ein Philosoph des 17. Jahrhunderts auf diese Fragen gibt, ins Medium des Qualitätsfernsehens: Mit Baruch de Spinoza geht die Serie im Gegensatz zur mittelalterlichen Tradition nicht davon aus, dass die Menschen einen ursprünglichen Drang zur Vergesellschaftung und Staatenbildung haben. Jedes Individuum ist im Gegenteil bestimmt durch die ihm eigene „natürliche Kraft“ beziehungsweise das ihm eigene

Streben, wodurch es strebt, in seinem Sein erhalten zu bleiben (conatus, quo… in suo esse perseverare conatur, E III Prop. VII; speziell über den Menschen gesagt: ‚vis naturalis…, qua homo in suo esse perseverare conatur’, TP II §5).

Was heißt das? Individuelles Sein ist nichts anderes als ein Streben. Jedes Ding strebt also danach, an dem Weltprozess als das, was es ist, also als Streben, teilzunehmen und sich als Strebendes zu erhalten. Es wird also danach streben, sich Räume für sein Streben zu eröffnen, um weiterhin streben zu können und das Streben zu steigern. Der Wettbewerb mit anderem Seienden ist damit unausweichlich: die Welt konzipiert Spinoza als Ort der Konkurrenz um Erhaltung und Steigerung des je eigenen Strebens. Sowohl die verbliebene Besatzung der Arche als auch die gelandeten 100 bieten gute Beispiele: Denn auf der Arche wird der Sauerstoff knapp, so dass nicht alle ihr Leben und somit ihr Streben fortsetzen können. Zirka dreihundert Personen müssen es beenden, um den anderen die Erhaltung des conatus zu ermöglichen. Für die danach noch 2237 Verbleibenden stehen im Landungsschiff nur 700 Plätze zur Verfügung, was die Zahl derer, die auf der Erde werden weiter nach Erhalt und Steigerung ihres Strebens streben können, drastisch reduziert. Warum wollen die Sky People überhaupt auf die Erde? Weil sie dort frei sind von den Beschränkungen und Gefahren, die ein Leben auf einer maroden Raumstation mit sich bringt. Auf der Erde muss nicht alles rationiert werden und müssen nicht so harsche Gesetze gelten wie das Ein-Kind-Gebot oder ein weitreichendes Todesstrafrecht. Menschlichem Streben würden dadurch ganz neue Perspektiven eröffnet. Viele andere Beispiele verdeutlichen Spinozas ontologische Grundkonzeption: Auf dem Boden stoßen die 100 sogleich auf die Grounders, die Jaspers (Devon Bostick) Streben durch einen Speerwurf in die Brust und seine Verwendung als Raubtierköder drastisch einschränken: nämlich auf das nackte Überleben. Das Streben etwa, Octavia (Marie Avgeropoulos) zu gefallen, muss Jasper unter diesen Umständen aufgeben. In der neunten Folge bietet Clarke Anya (Dichen Lachman), der Anführerin der Grounders vor Ort, friedliches Nebeneinander an und versucht, dies durch Aussicht auf gegenseitiges Steigern des Strebens schmackhaft zu machen: die Grounders könnten von Medizin und Technik der Sky People profitieren, also ihr Streben absichern und verstärken, indem es aus der urwüchsigen Fixierung auf die grundlegenden Ziele entlassen wird.

Doch die Appelle zu einer Kraft und Streben aller steigernden Koexistenz verhallen fruchtlos, was, wie man ebenso mit Spinoza gut erklären kann, an den Affekten liegt, die sich aus der Grundbestimmung des Menschen als vis beziehungsweise conatus ergeben: Denn Einschränkung des Strebens erleben wir als Trauer (tristitia), Ausweitung als Freude (laetitia; E III Prop. XI Sch.). Der Traurige wird seine Erwartungen und Ambitionen reduzieren, dem Freudigen wachsen sie in den Himmel. Der Mensch verknüpft nun Freude und Trauer mit den Gegenständen, die er als Ursache von Freude und Trauer ansieht: „Liebe“ (amor) nennt Spinoza den Affekt gegenüber einem Sein, das uns als Ursache der Freude erscheint, „Hass“ (odium) den Affekt gegenüber einem Sein, das uns als Ursache der Trauer erscheint (E III Prop. XIII Sch.). Ob wir etwas lieben oder hassen, beruht demnach auf unserer Einschätzung, ob es unser Streben steigert oder mindert. Doch menschliche Einschätzungen sind bekanntlich oft fehlgeleitet. Besonders deutlich wird dies an der jungen Charlotte (Izabela Vidovic), die das Trauma der Hinrichtung ihrer Eltern versucht zu überwinden, indem sie Wells regelrecht absticht, weil er, der Sohn des hinrichtenden Kanzlers, sie permanent an die Exekution erinnere. Dabei ist sie sich bewusst, dass Wells an der Hinrichtung ihrer Eltern selbst gar nicht beteiligt war, also nicht tatsächliche, sondern nur imaginierte Ursache ihrer Trauer ist. Substanzlose Assoziationen reichen, um unseren Hass ausbrechen zu lassen und gegen Menschen zu richten, die sich nichts haben zu Schulden kommen lassen. So entstehen etwa Fremdenhass und Rassismus. Die Grounders hassen die auf ihrem Gebiet gelandeten Sky People, weil sie sich durch sie eingeschränkt und bedroht fühlen; ob sie durch sie tatsächlich eingeschränkt und bedroht sind, ist eine ganz andere Frage und für das Handeln letztlich nicht von Belang. Wie so oft in der Politik beginnt aus bloßer Einbildung eine Spirale der Gewalt, die sich immer höher schraubt, im Falle der Grounders bis hin zu bakteriologischer Kriegsführung und Genozidabsichten gegenüber den Neuankömmlingen. Das US-amerikanische Gründungsnarrativ der durch Natur und Wilde bedrohten Siedler, die sich in Wagenburgen verschanzen und überlegene Kriegstechnik einsetzen, feiert fröhliche Urständ. Vor diesem Hintergrund wird der Ort des Geschehens verständlich: Den von der Natur zurückeroberten Großraum der US-Hauptstadt Washington, D. C. rekolonisieren die Sky People und vollziehen somit symbolisch das Wiedererstehen der Vereinigten Staaten. Die Handlung dürfte sich im oder in unmittelbarer Nähe von Clarke County abspielen, eines Landkreises, dessen Namen die Anführerin der 100 trägt.

Der skizzierte Gedankengang über das Streben und die Affekte liegt Spinozas Politischer Theorie zu Grunde: Demnach

bildet sich… jeder sein eigenes Urteil über gut und schlecht, sorgt jeder für seinen Nutzen nach seinem Sinn, übt er Rache und strebt, was er liebt, zu erhalten und, was er hasst, zu zerstören. Lebten nun die Menschen nach der Leitung der Vernunft, so würde jeder dieses sein Recht behaupten, ohne irgendeinen Schaden eines andern. Weil sie aber den Affekten unterworfen sind, die das menschliche Vermögen oder die menschliche Tugend weit übertreffen, werden sie oft in verschiedene Richtungen gezogen und stehen sich einander feindselig gegenüber, während sie doch wechselseitiger Hilfe bedürfen (E IV Prop. XXXVII Sch. II, zitiert ohne Spinozas zahlreiche Querverweise).

Im unvollendeten Tractatus Politicus nimmt Spinoza nicht mehr an, dass sich die Lösung dieses Problems als menschlicher Vernunftakt darstellen lässt: Die zu diesem Zweck entstehende politische Ordnung mit ihren Regeln und Sanktionen habe nicht (wie Hobbes meinte) den Charakter eines Gesellschaftsvertrags, sondern entstehe naturwüchsig aus den Affekten und Nöten der Menschen:

Und sicherlich hat ein jeder um so weniger Macht…, je mehr er Anlass zur Furcht hat. Hinzu kommt, dass es den Menschen kaum möglich ist, ohne wechselseitige Hilfe ihr Leben auszuhalten und ihren Geist auszubilden. Daraus schließen wir, dass von einem Recht der Natur, das dem Menschengeschlecht eigen ist, kaum anders als dort gesprochen werden kann, wo die Menschen gemeinsame Rechtsgesetze haben, dort, wo sie zusammen die Macht haben, Ländereien zu verteidigen, um sie zu bewohnen und zu bebauen, die Macht, sich selbst zu schützen, alle Gewalttätigkeit zurückzuweisen und gemäß einem Gutdünken zu leben, das allen gemeinsam ist (TP II §15).

Unter „Recht der Natur, das dem Menschengeschlecht eigen ist,“ versteht Spinoza ausdrücklich nicht ein normatives Naturrecht (etwa im Sinne des späteren John Locke), das vor aller menschlicher Rechtsetzung gelte und woraus Menschenrechte abzuleiten wären, sondern lediglich die faktische Macht, die Menschen aufgrund ihrer besonderen natürlichen Ausstattung haben, d. i.: sich organisieren und dadurch die Macht bündeln zu können. Angst, das Bewusstsein der engen Grenzen eigener Macht sowie der Unerlässlichkeit von Hilfe seitens anderer zum Überleben und bei der Realisierung eines bestimmten Lifestyles trieben demnach die Menschen ohne alle Anstrengungen der Vernunft mit natürlichem Automatismus in die innere und äußere Sicherheit einer politischen Ordnung.

Genau das zeigt auch die erste Staffel von The 100: Bellamys Devise: „Hier gibt es keine Gesetze. Hier tun wir, was immer zum Teufel wir wollen, wann immer zum Teufel wir wollen“ kann keinen Bestand haben. Denn alle in der Gruppe wären dann beliebigen Übergriffen seitens aller grundsätzlich ausgesetzt. Selbst ein Bully wie Murphy (Richard Harmon) erfährt dies am eigenen Leib, als ihn ein schnell entflammter Mob für den Mord an Wells zu Unrecht beinahe lyncht. Daraufhin startet Murphy selbst eine Lynchkampagne gegen die geständige Mörderin, Charlotte, ein traumatisiertes Kind. Kaum eine_r der 100 hätte die erste Staffel überlebt, wären Mord auf Mord, Lynchkampagne auf Lynchkampagne gefolgt. Bellamy und seine Anhänger_innen geben, getrieben von der Angst voreinander, die Alles-ist-erlaubt-Devise daher schnell auf und stimmen Clarke zu, dass nur Rechtsetzung und Rechtsprechung, wie rudimentär sie auch immer ausfallen mögen, den Bestand der Gruppe sichern können. Clarke und Bellamy fällt de facto das Gesetzgeber- und Richteramt zu, weil nur sie bei den anderen über das nötige Vertrauen verfügen und über den Einfluss, Urteile auch durchzusetzen. Zu der Bedrohung seitens der anderen Gruppenmitglieder kommt bald die Bedrohung durch die Grounders: die Dringlichkeit wird offenbar, das Lager zur Festung auszubauen, Waffen zu beschaffen, die Verteidigung zu trainieren, Wächter_innen einzuteilen und nur in gut gesicherten Trupps das Lager zu verlassen. Auch hier folgen die Gruppenmitglieder wie von selbst der unmittelbar erlebten Notwendigkeit, die vielen einzelnen schwachen Mächte der Individuen zu der um vieles größeren, vereinigten Macht eines politischen Verbandes zusammenzuführen. Spinoza stellt über die Herrschaft (imperium) in einer solchen urwüchsigen Notgemeinschaft fest:

Derjenige hat sie vollkommen in Händen, dem aus gemeinsamer Übereinstimmung (ex communi consensu) heraus die Sorge um die öffentlichen Angelegenheiten (cura reipublicae) obliegt; zu ihr gehört insbesondere, Rechtsgesetze zu erlassen, auszulegen und aufzuheben, Städte zu befestigen, über Krieg und Frieden zu entscheiden und anderes mehr. Kommt diese Sorge einer Versammlung zu, die sich aus der gemeinsamen Menge (multitudo) zusammensetzt, dann nennt man die Herrschaft Demokratie; man nennt sie Aristokratie, wenn sich die Versammlung nur aus einigen Auserwählten zusammensetzt, liegt schließlich die Sorge der öffentlichen Angelegenheiten und folglich die Herrschaft in den Händen nur einer Person, dann nennt man sie Monarchie (TP II §17).

Auch dieses Zitat passt genau zum Geschehens in The 100: Ohne gewählt oder durch irgend einen anderen Akt eingesetzt worden zu sein, übernimmt ein Rat der Bewährten und Machtbewussten nicht nur die Rechtsprechung, sondern die gesamte Organisation des Zusammenlebens und der Verteidigungsanstrengungen. Dieser Rat hat sich also, wie Spinoza treffend ausdrückt, allein „aus gemeinsamer Übereinstimmung“ unausgesprochen und unverhandelt wie von selbst gebildet. Ein Außenstehender wie Lincoln (Ricky Whittle) erkennt schnell, dass Clark de facto die Position der Anführerin der 100 einnimmt. Zwischen ihr und der Anführerin der örtlichen Grounders findet in der neunten Folge denn auch eine (scheiternde) Friedensverhandlung statt, von der die gesamte „Menge“ erst im Nachhinein erfährt. Unter den Jugendlichen und jungen Erwachsenen hat sich ungeplant und stillschweigend eine Aristokratie etabliert. Demokratische Elemente nimmt sie bei Gundsatzentscheidungen auf, wenn Ratsmitglieder in kurzen, einprägsamen Reden unterschiedliche Handlungsoptionen präsentieren – wie in der zwölften Folge, ob man, wie Clarke vorschlägt, vor dem alles entscheidenden Angriff der Grounders flieht oder sich, wofür Bellamy wirbt, dem Kampf stellt. Eine Diskussion der beiden Reden gibt es ebenso wenig wie eine Abstimmung; die Entscheidung fällt, indem die Menge Tatsachen schafft, hier: indem sie weiter für den Auszug zusammenpackt. Nichts zu diskutieren gibt es dann auch, als auf der Flucht der Kopf eines der Jugendlichen durch ein Grounder-Wurfgeschoß gespalten wird. Sofort kehrt man ins Lager zurück und bereitet den Kampf vor.

Die auf Affekte und vitalste Bedürfnisse gegründete politische Ordnung der jungen Sky People erweist sich als erstaunlich stabil und effektiv. Unter entspannteren äußeren Bedingungen würden die entscheidungsrelevanten Affekte und Bedürfnisse nicht mehr von allen wie selbstverständlich geteilt. Die Aristokratie müsste sich zu einer diskussionsfreudigen Demokratie weiterentwickeln, um einer differenzierten, uneinheitlicheren Interessenlage – mit Spinoza ausgedrückt: größerer Vielfalt und Reichweite des Strebens – Rechnung zu tragen. Spinoza schreibt daher über die Demokratie:

Ich habe diese lieber als alle anderen behandelt, weil sie, wie mir scheint, die natürlichste (maxime naturale) ist und der Freiheit, welche die Natur jedem einzelnen gewährt, am nächsten kommt. Denn bei ihr überträgt niemand sein Recht derart auf einen anderen, dass er selbst fortan nicht mehr zu Rate gezogen wird; vielmehr überträgt er es auf die Mehrheit der gesamten Gesellschaft (in majorem totius societatis partem), von der er selbst ein Teil ist. Auf diese Weise bleiben alle gleich, wie sie es vorher im Naturzustand waren (TTP XVI, S. 483 [181]).

Das besondere Streben (conatus, vis) einer_s jeden einzelnen kommt in der Demokratie am besten zur Geltung.

Auf der Arche herrscht ebenso keine Demokratie in Spinozas Sinne, sondern ein aristokratisches Kabinettsystem, was sich spätestens dann rächt, wenn die übrige Besatzung erkennt, dass sie vom Rat unzureichend informiert und belogen wurde. Fast kommt es zum Aufruhr – für die ehemalige Kanzlerin Diana Sydney (Kate Vernon) die Einladung zur Intrige. Spinoza findet auch für solche undemokratische Unvernunft die richtigen Worte, die zugleich (etwa unter die Überschrift TTIP) in jedes Stammbuch heutiger, sich demokratisch gebender Politiker gehören:

Zu wollen, dass man alles ohne Wissen der Bürger erledige und diese gleichwohl nicht verkehrte Urteile darüber fällen und alles ungünstig auslegen, ist die größte Torheit (TP VII §27).

Politische Einheit erzeugt man auf der Arche durch gewaltsame Durchsetzung drakonischer Regeln und durch Einschwören aller auf die Ideologie, dass der Fortbestand der Menschheit vom Überleben auf der Arche und der erfolgreichen Rückkehr der Crew auf die Erdoberfläche abhänge. Marcus Kane agiert vorerst ganz im Banne dieser Doktrin und verurteilt auf dieser Grundlage Abby zum Tode:

„Auf Schritt und Tritt, was es auch kostet werde ich mich entscheiden, das Überleben der menschlichen Gattung sicher zu stellen“ („…I’ll choose at every turn and at any costs to make sure that the human race stays alive“).

Abbys Entgegnung spricht Bände:

„Das ist der Unterschied zwischen uns, Kane. Ich entscheide mich, sicher zu stellen, dass wir das Überleben verdienen“ („That’s the difference between us, Kane. I choose to make sure that we deserve to stay alive,“ s1ep1, 29.47-30.04).

Was für eine Hybris, zu meinen, ein grausames, autoritäres Systems, das seine Angehörigen permanent überwacht und wegen Nichtigkeiten umbringt, auf die Erde und für die Geschichte retten zu müssen! Gerade angesichts des Misshandelns, Folterns, Mordens und Bekriegens, das sich sogleich nach der Landung zwischen den jungen Sky People und in ihrer Umgebung ausbreitet, scheint es sehr fraglich, ob die Menschheit irgend etwas aus dem Atomkrieg gelernt hat. Verdient sie es dann überhaupt fortzubestehen? Diese Frage zu stellen, gab bereits die Besprechung von The Philosophers reichlich Anlass. Zudem wurde, wie später (in der sechsten Folge der zweiten Staffel) von Kane eingestanden, die pathetische Menschheitsrettungsmission ohnehin hinfällig mit der Entdeckung, dass Menschen auf der Erde die Nuklearapokalypse überlebt haben.

 

Zitierte Werke Spinozas

Die deutschen Übersetzungen habe ich teilweise stillschweigend korrigiert.

E: Die Ethik. Lateinisch und deutsch, rev. übers. v. J. Stern, Stuttgart 1984.

TP: Politischer Traktat. Tractatus politicus. Lateinisch-Deutsch, übers. v. W. Bartuschat, Hamburg 1994.

TTP: Tractatus theologico-politicus. Theologisch-politischer Traktat, in: Opera. Werke. Lateinisch und deutsch, 1. Bd., hg. v. G. Gawlick, F. Niewöhner, Darmstadt 2008.

 

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