The 100, Staffel 2

Diese Besprechung von Dr. Alexander Wiehart wurde am 18. September 2015 online gestellt.

Bitte Folgendes beachten: Ziel meiner Besprechungen ist es nicht, Empfehlungen abzugeben. In erster Linie setze ich mich essayistisch mit Filmen und Serien auseinander und behandle an ihnen allgemeine philosophische, sozial- und geisteswissenschaftliche Fragen. Dabei muss ich das „Ende“, Pointen, Wendungen und Clous oft in die Überlegungen einbeziehen. Wer sich daher Spannung und Suspense nicht verderben lassen will, lese meine Kritiken immer erst nach Sehen des Films beziehungsweise der Serie! Die Spoilerwarnung ist hiermit ausgesprochen.

Gaston

The 100: USA, 29+ Folgen in 2+ Staffeln seit 2014, Showrunner: Jason Rothenberg, nach den gleichnamigen Büchern von Kass Morgan, D Staffel 2:
Sky People von der Arche (Jugendliche und junge Erwachsene): Eliza Taylor, Thomas McDonell, Bob Morley, Marie Avgeropoulos, Lindsey Morgan, Devon Bostick, Christopher Larkin, Richard Harmon,
Sky People von der Arche (Elterngeneration): Paige Turco, Isaiah Washington, Henry Ian Cusick,
Grounders: Ricky Whittle, Alycia Debnam-Carey, Adina Porter,
Mountain Men: Raymond J. Barry, Eve Harlow, Johnny Whitworth

Zitiert wurde (so gut ich konnte) nach dem Gehör aus dem englischen Original von The 100. Die deutsche Übersetzung der Dialogzeilen stammt von mir.

Die Besprechung der ersten Staffel von The 100 findet sich unter:
https://wiehart.wordpress.com/film-und-fernsehkritik/fernsehserien/the-100-staffel-1/

„Pretty Little Mass Murderers“ passte eigentlich besser als „The 100“ zu dieser Serie. Dieser Eindruck entsteht nach dem Sehen der zweiten Staffel. Denn erstens scheint von den ursprünglich 100 Jugendlichen, die auf der postnuklearapokalyptischen Erde ausgesetzt werden, am Ende der ersten Staffel nur noch ungefähr die Hälfte am Leben. Zudem sind sie nicht mehr auf sich gestellt: der geglückte Landungsversuch der Erwachsenen um Dr. Abby Griffin (Paige Turco) und Marcus Kane (Henry Ian Cusick) lässt die ehemaligen Bewohner_innen der Raumstation „Arche“ in irdischen Gefilden auf eine ungenannte Zahl wohl deutlich über 100 anwachsen. Vor allem aber wird der auf der Erdoberfläche zwischen den drei Parteien: Sky People von der Arche, Grounders, Mountain Men entbrennende Überlebenskampf ohne Rücksicht auf die längst nicht mehr geltenden Menschenrechte und Genfer Konventionen ausgefochten. Folter, bestialische Hinrichtungsrituale, die Ermordung hilfloser, alter, minderjähriger Zivilist_innen, Massenmord, Genozid erleben wir in atemloser Dramaturgie und drastischen, nichts beschönigenden Bildern. Jugendliche, die eigentlich die Schulbank drücken müssten, zerfleischen mit Küchenmessern, Äxten und Gebrüll völlig enthemmt Wachmannschaften. Man schreckt weder vor biologischen, chemischen noch strahlungsphysikalischen Waffen zurück: Bereits in der ersten Staffel schickten die Grounders den künstlich infizierten Murphy (Richard Harmon) in das Lager der 100, damit sich möglichst viele dort mit lähmender Krankheit anstecken und kampfunfähig werden. Die Mountain Men gehen regelmäßig mit dem hochtoxischen gelben Nebel gegen die Grounders und die frisch gelandeten Jugendlichen vor. In der zweiten Staffel hätten sie mit diesem chemischen Kampfstoff die gesamte Armee der Grounders und Sky People, ohne mit der Wimper zu zucken, ausgelöscht, wäre es Bellamy (Bob Morley) nicht gelungen, die Anlage in letzter Sekunde zu zerstören. Aber auch die Held_innen, aus deren Perspektive wir das Geschehen miterleben, schrecken vor dem Äußersten nicht zurück: Clarke (Eliza Taylor) und Bellamy pumpen schließlich die immer noch tödlich radioaktiv verseuchte Frischluft in das Bunkersystem von Mount Weather, um die gesamte, gegen Strahlung nicht immune Bevölkerung dort – auch Alte, Kinder und Gegner des Regimes – einen qualvollen Tod sterben zu lassen. Der meisten Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit machen sich die Mountain Men schuldig: medizinische Experimente an Lebenden gegen deren Willen und die gewaltsame Nutzung der Körper von eingefangenen Grounders als Blutkonserven stehen offenbar bereits seit Jahrzehnten auf der Tagesordnung. Bei lebendigem Leibe wirft man die ausgelaugten Körper dann den Reapers zum Fraß vor. Die Reapers selbst stellen sich als Produkte wissenschaftlicher Manipulation heraus: Drogen und Folter verwandeln Grounders in diese wahnsinnigen, mordenden, kannibalischen, aber willfährigen Sklaven. Schließlich begann man in Mount Weather, aus den 47 zuerst freundlich aufgenommenen jugendlichen Sky People das Knochenmark bei lebendigem Leibe zu extrahieren, um sich deren Immunität gegen die verstrahlte Frischluft zu verschaffen. An den Aktionen der Mountain Men wird die Schrankenlosigkeit besonders deutlich, mit der man vitale Interessen des eigenen politischen Verbandes auf Kosten anderer durchzusetzen versucht. Offenbar handelt es sich bei ihnen um Nachkommen des zur Zeit des Atomkrieges amtierenden US-Präsidenten, seines Gefolges und örtlicher Regierungsangestellter. Sie müssen dauerhaften Schutz auf Mount Weather in der dortigen (tatsächlich existierenden) Bunkeranlage gefunden haben. Wie entmythologisierte Vampire hausen deren Nachkommen nun in abgeschotteter Bergfeste, aus der sie von Zeit zu Zeit zur Jagd auf Menschen hervorbrechen, um sich deren Blut einzuverleiben. Wie Vampire in der Sonne kollabieren sie unter Zersetzung der Haut sofort, wenn sie mit Frischluft in Berührung kommen. Selbst Draculas Renfield lässt grüßen: die eigens dafür geschaffenen Reapers agieren für sie in der Frischluft. Mit den Vampiren verbindet sie überdies die schäbige Stylishkeit und der gehobene Benimm: schöne Satire des Elitenlifestyles. Hinter der bröckelnden Prachtfassade verbirgt sich also, wie so oft, die größte Menschenverachtung. Kunstschaffende, Ästhetiker und Funktionäre des Kunstbetriebs mag es befremden, dass ausgerechnet die Mountain Men als Bewahrer und Liebhaber der Kunst auftreten: Kunst, nicht als etwas politisch Widerständiges, sondern etwas, womit sich ein dekadentes, monströses Regime schmückt und legitimiert. So begegnen persiflierte Kunst und Style auch etwa in dem eindrucksvoll poppigen DDR-Science-Fiction-Spektakel Im Staub der Sterne von 1976 (R: Gottfried Kolditz). Wie mit den aggressiv postapokalyptischen Grounders und den zerschlissen astronautischen Sky People wird also auch mit den vampiresken Mountain Men ein bekannter Typus der Unterhaltungskultur aufgegriffen und in die Welt von The 100 eingepasst – ein Spiel mit Vorbildern, das Laune macht. Bei Kostümen, Architektur und so manchem anderen Ausstattungsdetail hätte man sich allerdings etwas mehr Sorgfalt, Aufwand und Fantasie gewünscht.

Die schon in der ersten Staffel beobachteten Bezüge zum Gründungsnarrativ der USA werden durch den Auftritt der Mountain Men vertieft: Wenn die Grounders für die amerikanische Urbevölkerung stehen, gegen die sich die Siedler mit überlegener Technik durchsetzen, könnte man in den Mountain Men mit ihrem rückwärtsgewandten Lifestile und dem ausbeuterischen Verhältnis zu Land und Menschen den Hinweis auf die technisch ebenbürtige englische Kolonialmacht sehen, gegen die man die Unabhängigkeit zu erstreiten hatte.

Doch zurück zur desolaten Menschenrechtslage in der postapokalyptischen Welt von The 100! Die zweite Staffel generiert ihre Hochspannung zu einem guten Teil aus dem Flirt mit dem Menschenverachtendstem. Von dem Reiz eines Flirts mit sadistischer Grausamkeit zehrt eine andere aktuelle und erfolgreiche Teenager-Serie: Pretty Little Liars. Allerdings verbleibt das Verbrechen dort in den engen Grenzen wohlbehüteter, provinzieller Gymnasiastinnenexistenzen. Erwachsen erleben wir es aus der Perspektive von Schwerstkriminellen in Die Sopranos, Dexter und Hannibal. Erwachsenen und politisch motivierten Menschenrechtsverletzungen sehen wir gebannt zu in 24 und Homeland, wo sie allerdings mit geheimdienstlicher Zurückhaltung und in vergleichsweise bescheidenem Rahmen verübt werden. The 100 bietet offene, politisch veranlasste Gräuel in nationalen Dimensionen, die sich, so kündigt es sich am Ende der zweiten Staffel an, ins Welthistorische steigern werden. Glück und Leben ganzer Völker finden sich auch im Strategiespiel von Game of Thrones verbraucht, nur dass in The 100 der durch keine Tradition oder Erfahrung beschränkte Furor junger Erwachsener das Gesetz der Handlung weitgehend bestimmt: Clarke als faktische Anführerin der Sky People, Lexa als Befehlshaberin der Grounders (Alycia Debnam-Carey) und Cage Wallace (Johnny Whitworth) als Präsident auf Mount Weather schrecken vor keinem Tabubruch und keiner Eskalation zurück. Politische Konstellationen und Gepflogenheiten, die fast 100 Jahre bestanden, fegen sie in wenigen Tagen von der Bühne. Was fasziniert unsere Zeit an der unverblümten und ideologisch immer weniger verbrämten Darstellung äußerster Menschenverachtung? Was macht den Reiz der in Kinoproduktionen und Qualitätsserien vorgeführten relativen Lockerheit aus, mit der bislang pädagogisch, rhetorisch und medial errichtete moralische und politische Schranken ohne lange Diskussion durchbrochen werden? Offenbar spiegelt sich darin die Erfahrung mit unserer realen Politik, die fast nach Belieben bisherige Grundwerte und Übereinkünfte zu missachten scheint: ohne Sinn und Verstand Foltercamps einzurichten, Bürgerrechte zu beschneiden, die Totalüberwachung anzustreben, Kriege vom Zaun zu brechen, Menschen nach Belieben zu rechtlosen Terroristen zu erklären, Millionen unter menschenunwürdigen Bedingungen in Lager zu pferchen, sich mit Clips von Verstümmelungen, Enthauptungen und Verbrennungen zu brüsten, ganz allgemein: integratives, versöhnendes zu Gunsten ausgrenzenden, konfrontativen Engagements aufzugeben. Der Schrecken fährt uns allen in die Glieder. Bei Philosoph_innen provoziert er Äußerungen, denen man das Entsetzen anmerkt:

Meine Worte wohl wägend sage ich hier und jetzt: Heute gibt es auf Erden keine legitime Gewalt, selbst die Mächtigen dieser Welt sind sich ihrer Illegitimität bewusst (Giorgio Agamben: Kirche und Reich, Berlin 2012, 29).

Wollen wir das letzte Wort aber wirklich moralisch völlig entkernten Charakteren wie Frank Underwood aus House of Cards oder Nucky Thompson aus Boardwalk Empire überlassen? The 100 geht so weit nicht. Moral bleibt dort in der Diskussion. Wundervoll prägnant gestalten sich die Dialoge, zu denen vor allem Bellamy und Lexa scharfe amoralische Einzeiler beisteuern, die Clarke zu kontern hat. Auch das Aufeinanderprallen von Abby und Kane schlägt so manchen sprachlichen Funken. Überhaupt wird ein Gutteil der ständigen immensen Spannung in der zweiten Staffel durch den moralischen Konflikt erzeugt, in dem wir die Held_innen, namentlich Clarke, mit sich selbst ringen sehen. Also bereits aus dramaturgischen Gründen nimmt The 100 moralische Fragen sehr ernst. Grausamkeiten und menschenverachtende Taten erschöpfen sich nicht im Schockeffekt, sondern sind von vornherein in den Horizont der Moralität eingelassen. Man handelt nicht leichtfertig oder wie ein James Bond-Bösewicht im Wahn, sondern ist sich während der Tat aller Fragwürdigkeit schmerzlich bewusst. Siege haben daher nichts Triumphales. Nicht lange währen die Versuche, die eigene moralische Schlechtigkeit als nur temporären, von den Umständen erzwungenen Ausrutscher zu bagatellisieren: So beruhigen sich Bellamy und Clarke vorerst mit der bequemen Sprachregelung, die Bellamy in der ersten Staffel vorschlägt:

„Wer wir sind und wer wir sein müssen, um zu überleben, sind sehr verschiedene Dinge“ („Who we are and who we need to be to survive are very different things“, s1 ep7, 39.44-51).

Diese Sprachregelung greift Clarke gegenüber Finn (Thomas McDonell) in der zweiten Staffel auf:

„Was wir getan haben, um zu überleben, definiert uns nicht“ („The things we’ve done to survive, they don’t define us“, s2 ep8, 28.00-28.06).

Der gutmütige, auf Frieden bedachte Finn, der am vermeintlichen Tod Clarks zerbrochen ist und unschuldige Dorfbewohner_innen, darunter Jugendliche und Alte, niedergemetzelt hat, erfährt an sich selbst, dass dies nicht stimmen kann. Wir können uns nicht von unseren Handlungen loskoppeln und einen unberührbaren moralischen Kern bewahren. Was wir im Überlebenskampf tun, zu dem werden wir auch: der Massakrierer ist ein Massakrierer und nicht irgendwo im tiefen Inneren eigentlich unschuldig. Nach und nach gestehen sich die Protagonist_innen denn auch ein, moralische Schuld auf sich geladen zu haben. Besonders bewegt der Dialog zwischen den verschütteten Abby und Marcus:

Marcus: „Wir exekutierten Menschen für das Stehlen von Medizin und Essen. Wir haben die Luft aus den Lungen von 300 Eltern gesaugt, damit sie ihre Kinder retten können.“
Abby: „Wie den Mann zu floaten, den du liebst, um deine Leute zu retten.“
Marcus: „Ja. Wir müssen für unsere Sünden gerade stehen, Abby.“
Abby: „Nach allem, was wir getan haben, verdienen wir überhaupt zu überleben?“
(Marcus: „We executed people for stealing medicine and food. We’ve sucking the air from the lungs of 300 parents so that they can save their children.“ Abby: „Like floating the man you love to save your people.“ Marcus: „Yes. We have to answer for our sins, Abby.“ Abby: „After everything we have done do we even deserve to survive?“, s2, ep 13, 25.47-27.00)

Auch Clarke geht durch dieses Tal der Selbsterkenntnis, nicht moralisch der Mensch zu sein, der sie glaubte zu sein und der sie sein möchte. Vor der großen Konfrontation mit den Mountain Men hatte ihre Mutter sie gebeten:

„Du musst etwas für mich tun. Vergiss nicht, dass wir die Guten sind!“ („I need you to do something for me. Don’t forget that we are the good guys“, s2, ep 13, 39,45-52).

Nach der Auslöschung der Mountain Men inklusive aller Kinder und sonstigen Unschuldigen muss Clarke sich selbst und ihrer Mutter eingestehen:

Clarke: „Ich versuchte es, ich versuchte, der Gute zu sein.“
Abby: „Vielleicht gibt es keine Guten.“
(Clarke: „I tried, I tried to be the good guy.“ Abby: „Mayby there are no good guys.“, s2, ep16, 32,17-25)

Clarke, erschüttert von dem, was sie geworden ist, verlässt am Ende der zweiten Staffel ihre Sky People. Offenbar sucht sie wie eine spätantike oder mittelalterliche Anachoretin in der Abgeschiedenheit Frieden, um die ihr selbst verloren gegangene eigene Persönlichkeit neu aufzubauen. Es sich leicht machen und den moralischen Standpunkt einfach aufgeben, was Abby mit ihrer Antwort andeutet, will sie und mit ihr die Serie nicht. Das macht Serie und Hauptfigur philosophisch so lehrreich und verdienstvoll. Denn viele gute Fragen schließen sich daran an.

Als erstes drängt sich die Frage auf, worin der moralische Standpunkt überhaupt besteht. Das wird an Clarke deutlich: er besteht darin, sich bewusst zu sein, dass die eigenen Interessen oder Interessen der eigenen Gruppe nicht grundsätzlich höherwertig sind als die Interessen der anderen. Hobbes, Spinoza, Leibniz, Locke, Rousseau, Kant und viele spätere Philosoph_innen sind diesem Ansatz verpflichtet, ihn schreibt 1776 die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika zu Beginn der Präambel fest, ihn positivieren Artikel 1 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 und zahlreiche andere grundlegende Gesetzestexte. Für unsere heutige Zeit formuliert etwa Thomas Nagel diesen Ausgangspunkt in elementaren Worten:

Die Grundlage der Ethik ist die Überzeugung, dass Gut oder Böse bestimmten Menschen (oder Tieren) gegenüber nicht nur von ihrem Standpunkt aus gut oder schlecht sind, sondern aus einem allgemeineren Blickwinkel, den jede denkende Person verstehen kann. Dies bedeutet, dass jeder einen Grund hat, nicht nur seine eigenen Interessen, sondern auch die Interessen anderer in seine Entscheidungen einzubeziehen. Und es reicht nicht aus, nur auf einige andere Leute Rücksicht zu nehmen – seine Familie, seine Freunde, Menschen, die ihm besonders nahestehen. Natürlich wird er auf bestimmte Leute mehr Rücksicht nehmen, unter anderem auf sich selbst. Doch er hat Grund, die Auswirkungen seiner Handlungen auf das Wohl oder das Leid jedes anderen zu erwägen (Was bedeutet das alles? Eine ganz kurze Einführung in die Philosophie, Stuttgart 2007, 57f.; ursprünglich als What Does It All Mean? A Very Short Introduction to Philosophy, 1987).

Moralität verpflichtet also nicht, alle Menschen immer gleich zu behandeln. Selbstverständlich gibt es Loyalitäten und Interessen, aufgrund deren wir einigen (Lebenspartner_in, Verwandten, Freunden) mehr Zuwendung schulden als anderen. So weit aber, einem Menschen jede Berücksichtigung seiner Interessen vorzuenthalten, ihm womöglich rechtmäßige Interessen ganz abzusprechen, können wir nicht gehen, ohne den moralischen Standpunkt zu verlassen. Ob, unter welchen Bedingungen, mit welcher Art von Handlungen und wie weit wir die eigenen Interessen und die Interessen der uns näher Stehenden gegenüber den Interessen der uns ferner Stehenden bevorzugen dürfen, bleibt im einzelnen zu klären. Nicht strittig kann auf dem moralischen Standpunkt sein, dass wir andere, so fern sie uns auch stehen mögen, niemals ausschließlich als Mittel zu unseren Zwecken ansehen und gebrauchen dürfen:

Nun sage ich: der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden (Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 64f., zitiert nach Bd. VII der Weischedel-Ausgabe).

Dies etwa leisten die Mountain Men definitiv nicht, wenn sie zu ihrem eigenen Nutzen die Körper der Sky People erbarmungslos ausschlachten oder Grounders in Reapers verwandeln. Dabei werden alle Interessen, das gesamte Selbstverständnis der Opfer völlig unbeachtet gelassen: man behandelt sie wie Dinge, die keinen eigenen Willen, keine eigenen Entwürfe, kein Bewusstsein haben. Aber auch Clarke und Bellamy verlassen den moralischen Standpunkt, wenn sie (fast) alle Mountain Men ohne Unterschied radioaktiv vergiften. Damit entwürdigen sie sie ganz zum Mittel der Rettung der gefangenen Sky People. Weniger eindeutig wird die Bewertung von Lexas und Clarkes Entscheidung ausfallen, die eigenen Mitstreiter_innen und Dorfbewohner_innen aus taktischen Erwägungen vor dem Raketenangriff der Mountain Men nicht zu warnen. Eine ganze Palette an interessanten und oft nicht so ohne weiteres moraltheoretisch zu fassenden Konstellationen bietet uns die zweite Staffel. Jede_r mag sich selbst daran nach Lust und Laune abarbeiten!

Die Forderung Kants und Moral überhaupt werden selbstverständlich nicht bereits dadurch außer Kraft gesetzt, dass die Möglichkeit besteht, dagegen zu verstoßen. Es gibt unmoralische Handlungen und unmoralische Menschen. Wir selbst agieren oft genug unmoralisch. Das spricht allerdings nicht gegen die Moral. Vielmehr werden wir uns an den Verstößen überhaupt erst bewusst, dass wir moralisch verpflichtet sind. Clarke lernt an ihrem eigenen moralischen Versagen, was Moral überhaupt ist und wie tief sie sitzt. Selbst die scheinbar skrupellose Lexa leidet, wenn sie wieder einmal aus politischem Kalkül eine unmoralische Entscheidung trifft. Es scheint aber so, dass die Moral regelmäßig auf der Strecke bleibt, wenn es um das Überleben, bisweilen sogar um das Gutleben der eigenen Gruppe oder einzelner Gruppenmitglieder geht. Bert Brechts: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“ (Die Dreigroschenoper, 1928) scheint sich überall zu bestätigen. Lexa beeindruckt mit ähnlicher Sentenz:

„Die Toten sind fort, Clarke. Die Lebenden sind hungrig“ („The dead are gone, Clarke. The living are hungry“, s2 ep9).

Was aber ist die Moral wert, versagt sie regelmäßig ausgerechnet dann, wenn sie am meisten gefordert ist? Ist Moral tatsächlich nur Luxus, den man sich leistet, wenn es nicht weh tut? Warum sollten wir da überhaupt noch moralisch sein wollen und an der eigenen Unmoral leiden? Das ist in der Tat die große Frage, die aber eigentlich gar nicht so schwer zu beantworten ist.

Erinnern wir uns an das letzte Statement von Dante Wallace, des alten Präsidenten der Mountain Men (Raymond J. Barry):

Keiner von uns hat hier eine Wahl, Clarke (None of us has a joice here, Clarke; s2, ep 16, 18.13-16).

Damit stellt er, bevor ihn Clarke erschießt, die Bestialität der gewaltsamen Knochenmarkextraktion als Notwendigkeit hin. Tatsächlich handelt es sich aber um keine Notwendigkeit, was schon daran zu ersehen ist, dass die Mountain Men 97 Jahre ohne diese Maßnahme gut überstanden haben. Der alte Wallace hatte noch in Folge 11 der zweiten Staffel selbst versucht, die grausamen, von seinem Sohn im Geheimen veranlassten Experimente zu unterbinden. Warum wollte man keine freiwillige Vereinbarung mit den Sky People treffen: kleine, kontinuierlich abgegebene Dosen an Knochenmark gegen Güter, technisches Know How etc.? Wie dem auch sei: Entscheidend ist, dass Menschen sich selbst oft so entwerfen, dass sie glauben, sie müssen tun, was sie tun. Bedingungslos ordnen sie sich dem Diktat gewisser Interessen unter: wie Vater und Sohn Wallace dem Diktat des Interesses, die Mountain Men aus dem Bunker in die Frischluft zu führen. Damit aber entwürdigen sie ihre eigene Existenz zum Mittel, dieses Ziel zu erreichen. Wer den moralischen Standpunkt verlässt, verlässt ihn auch gegenüber sich selbst und kann sich selbst nur noch als Instrument verstehen, das bestimmte Funktionen zu erfüllen hat und seinen Wert ausschließlich aus der Erfüllung dieser Funktionen bezieht. Der amoralische Standpunkt geht also meist mit Selbstinstrumentalisierung und Selbstverdinglichung einher: man erfährt sich nicht als jemand, der die eigenen Ziele und Interessen festlegt und damit auch wechseln kann, man erfährt sich als jemand, dem die Ziele und Interessen unumgänglich vorgegeben sind – sogar wenn es egoistische Ziele und Interessen sind. Der Geldgierige beispielsweise degradiert sich selbst zum Instrument der Geldbeschaffung und kann sich gar kein anderes Leben als das des Geldbeschaffens vorstellen. Er schafft weiterhin Geld heran, auch wenn er gar nicht weiß, wofür er das Geld ausgeben soll. Wer immer fragt, was ihm eine Handlung auf Dollar und Cent genau einbringt, reduziert sich selbst zum Verdienapparat. Die Moral bietet uns an, aus solcher Selbstverdinglichung auszubrechen: sich selbst von den eigenen Interessen und daran geknüpften Regeln, Affekten und Haltungen zu befreien, indem wir die Interessen anderer in den Blick nehmen. Wir erschließen uns damit Handlungsräume und ‑optionen, die einem ichzentrierten Magnaten bei allem Geld und Einfluss verschlossen bleiben müssen. Wohl berühmtestes und am meisten gelungenes filmisches Beispiel der Selbstverdinglichung und ihrer Folgen bietet Orson Welles’ Klassiker Citizen Kane (USA 1941) in der Titelfigur. Das vielleicht eindruckvollste filmische Beispiel ihrer Überwindung ist Replikant Roy Batty aus Blade Runner mit seinem Verzicht auf Rache.

Was hätte nun Clarke tun sollen? Der Ausweidung ihrer Mutter und der anderen Sky People tatenlos zusehen? Gerade wenn man sich auf den moralischen Standpunkt stellt, verbietet sich vorschnelles Urteilen von oben herab. Man wird das Interessen- und Handlungsgeflecht in der jeweiligen Situation genau analysieren müssen. Insbesondere wird man nicht pauschal von der Prämisse ausgehen dürfen, das eigene Überleben, das Überleben der eigenen Gruppe oder gar der Menschheit sei unter allen Umständen zu sichern. Die vielleicht beunruhigendste Frage soll wie bereits am Ende der Besprechung von Staffel 1 sowie in der Besprechung von The Philosophers offen bleiben. In Abbys oben zitierten Worten: „Nach allem, was wir getan haben, verdienen wir überhaupt zu überleben?“ Der Cliffhanger am Ende der zweiten Staffel bekräftigt diese Frage, gestellt an die gesamte Menschheit. Denn offenbar soll 97 Jahre nach dem atomaren Holocaust wieder einmal eine Atombombe gebaut werden.

 

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